Wie der US-Präsident zum Mythos wurde
Drei Schüsse. Ein toter US-Präsident. Eine entsetzte Welt. Die Ermordung von John F. Kennedy (1917-1963) war eines der spektakulärsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Auch 60 Jahre danach gibt das Attentat immer noch Rätsel auf.
Am 22. November 1963 fliegt Präsident John F. Kennedy in Begleitung seiner Frau Jacqueline Bouvier-Kennedy (1929-1994) und seines Vize-Präsidenten Lyndon B. Johnson (1908-1973) aus Texas mit der Air Force One nach Dallas. Kennedy befindet sich im Wahlkampf um eine zweite Amtszeit im Weißen Haus.
„Willkommen in Dallas, Mr. President!“
Dallas gilt zu dieser Zeit als stockkonservativ und Hochburg der Republikaner, die Bevölkerung sieht den Demokraten Kennedy mehr als skeptisch, es kursiert ein Flugblatt in Form eines Steckbriefs, auf dem der Präsident "wegen Hochverrats" gesucht wird. Und die "Dallas Morning News" veröffentlicht eine ganzseitige Traueranzeige mit der Überschrift "Willkommen in Dallas, Mr. President!".
Im Text werden hanebüchene Vorwürfe erhoben: Kennedy sei verantwortlich für die Einkerkerung, Ausweisung und Verfolgung Tausender Kubaner. Die Regierung habe sich mit US-Kommunisten verbündet und verkaufe Lebensmittel nach Nordvietnam an Rebellen, die US-Militärberater erschießen würden. Der Polizeichef spricht im TV-Sender NBC von "aggressiver Stimmung in der Stadt" und warnt vor Ausschreitungen.
Die örtliche Polizei hat zum Schutz des Staatsoberhaupts 365 Beamte abgestellt, hinzu kommen 28 Secret-Service-Agenten aus Washington. Die Dächer der Hochhäuser entlang der Route, die der Präsidenten-Konvoi fahren soll, werden jedoch nicht gesichert wie etwa in Tampa/Florida, das Kennedy wenige Tage zuvor besucht hat.
Er selbst kennt die Sicherheitslücken, bleibt aber gelassen. "Wenn jemand wirklich den Präsidenten der Vereinigten Staaten erschießen wollte, wäre das keine schwierige Arbeit: Man müsste nur eines Tages mit einem Gewehr mit Zielfernrohr auf ein hohes Gebäude hinauf, niemand könnte etwas gegen einen solchen Anschlag unternehmen", sagt JFK noch am Morgen des 22. November zu seinem Assistenten Kenneth O'Donnell (1924-1977).
Die Fahrt von John F. Kennedy in den Tod
Um 11:38 Uhr Ortszeit landet die Präsidenten-Maschine in Dallas. Die Stadt hat ein subtropisches Klima, es ist trotz November warm, deshalb steigen die Kennedys in ein sechssitziges Lincoln Continental X-100-Cabrio um. Hinten sitzen JFK und Jackie, davor der texanische Gouverneur John Connally (1917-1993) und seine Frau Nellie (1919-2006), Fahrer und Beifahrer sind vom Secret Service.
200.000 Menschen stehen am Straßenrand, als der Konvoi im Schritttempo durch Dallas fährt. Die meisten bejubeln den charismatischen Präsidenten, vor allem seine charmante Frau. Nellie Connally dreht sich zu Kennedy um und sagt: "Sie können nicht behaupten, dass Dallas Sie nicht liebt, Mr. President." JFK erwidert lächelnd: "Nein, das kann man nicht sagen." Das sind seine letzten Worte.
Um 12:30 Uhr fallen in Höhe der Elm Street innerhalb von 8,5 Sekunden drei Gewehrschüsse. Sie werden, so stellt es hinterher die Warren-Kommission fest, die im Auftrag des Weißen Hauses die Umstände des Attentats untersucht, aus dem 5. Stock eines Schulbuchverlags abgefeuert.
Die erste Kugel verfehlt das Ziel, die zweite dringt von hinten in Kennedys Rücken, tritt an seinem Hals beim Krawattenknoten wieder aus, trifft den vor ihm sitzenden Connally in den Rücken, durchschlägt seine Brust sowie das rechte Handgelenk und bohrt sich schließlich in den linken Oberschenkel. Die erstaunliche Flugbahn des Geschosses, von der die Warren-Kommission ausgeht, wird später von Kritikern "Magic Bullet" genannt: Zauberkugel. Noch heute wird die Frage diskutiert: Wie kann eine einzige Kugel gleich zwei Menschen an so unterschiedlichen Stellen verletzen?
Die dritte Kugel durchschlägt den Hinterkopf des Präsidenten, eine absolut tödliche Verletzung.
War es wirklich Lee Harvey Oswald?
80 Minuten nach dem Attentat wird Lee Harvey Oswald (1939-1963), ein ehemaliger Marine-Soldat, in einem Kino festgenommen. Er hatte kurz zuvor den Streifenpolizisten J.D. Tippit erschossen. Nun stellt sich heraus: Oswald ist Gelegenheitsarbeiter in dem Schulbuchverlag, aus dem geschossen wurde. Das Mannlicher-Carcano-Gewehr mit Zielfernrohr, das an einem Fenster im 5. Stock des Gebäudes neben drei leeren Patronenhülsen gefunden wird, gehört ihm, sein Handabdruck ist auf der Waffe. Ballistische Untersuchungen ergeben, dass die "Magic Bullet" aus diesem Gewehr abgefeuert wurde.
Vom ehemaligen Marine Oswald ist bekannt, dass er über zwei Jahre in Moskau gelebt, dort geheiratet und die sowjetische Staatsbürgerschaft beantragt hatte. CIA und FBI haben dicke Akten über den marxistischen Wirrkopf angelegt. Er soll außerdem nur wenige Wochen vor dem Anschlag nach Mexiko gereist sein und in der sowjetischen Botschaft von Mexiko City den KGB-Agenten Valeriy Kostikov getroffen haben. Dieser Mann arbeitet für das 13. Departement des sowjetischen Geheimdienstes, das auch für Attentate zuständig war.
Den Mord an Kennedy sowie eine Tatbeteiligung streitet Oswald ab und erklärt, er solle zum "Sündenbock" gemacht werden. Zwei Tage nach dem Kennedy-Mord wird Oswald bei der Überführung in das Staatsgefängnis von Dallas vom Nachtclubbesitzer Jack Ruby (1911-1967) erschossen – obwohl der damalige FBI-Chef J. Edgar Hoover (1895-1972) die Ermittler in Dallas vorher gewarnt hatte, dass das Leben des Attentäters in Gefahr sei.
Von Jack Ruby ist bekannt, dass er enge Kontakte zur Mafia pflegt und zeitweise als Informant für das FBI arbeitet. Er wird für den Mord an Oswald zum Tode verurteilt. Das Urteil vom 14. März 1964 wird zwei Jahre später aufgehoben, ein neuer Prozess ist für Februar 1967 in Wichita Falls anberaumt, doch davor stirbt Ruby mit 55 Jahren an Lungenkrebs.
Diese widrigen Umstände lassen die Zweifel an den Ergebnissen der offiziellen Warren-Kommission, wonach Oswald bis heute als Alleintäter gilt, nicht verstummen und beflügeln die Gerüchte um Verschwörungen gegen Kennedy. Laut "National Geographic" kursieren im Wesentlichen drei verschiedene Theorien:
1. Die CIA-Verschwörung: Demnach war der US-Geheimdienst in das JFK-Attentat verwickelt. Kennedy und die CIA seien sich seit der gescheiterten Invasion in der Schweinebucht auf Kuba spinnefeind gewesen. Exilkubaner sollten 1961 mit CIA-Unterstützung Fidel Castro (1926-2016) stürzen. Die Operation schlug fehl und wurde zum außenpolitischen Fiasko für die USA. Kennedy habe gedroht, er werde die CIA "in tausend Stücke zersplittern und in alle Winde zerstreuen".
2. Die kommunistische Verschwörung: Sie unterstellt, dass die Sowjets Kennedy aus dem Weg räumen wollten, um geopolitische Vorteile zu erlangen. Ihr Motiv: Rache für die 1962 in der Kubakrise erlittene Demütigung, als die Sowjets ihre dort stationierten Raketen abziehen mussten. Indiz für diese Theorie: Oswald war bekennender Marxist und hatte auch nach seinem Aufenthalt in der UdSSR Kontakte zum KGB.
3. Die Mafia-Verschwörung: Nach dieser Theorie soll Kennedy selbst Verbindungen zur Unterwelt gehabt haben. Im Präsidentschaftswahlkampf 1960 hatte ein Mafia-Boss für ihn gespendet. Außerdem hätte die Mafia mit der CIA gemeinsame Sache gemacht, um Castro zu stürzen. Später startete die Kennedy-Regierung eine rigorose Kampagne gegen das organisierte Verbrechen. Fühlte die Mafia sich verraten? Ordnete sie deshalb die Ermordung von JFK an?
Neue Theorie 60 Jahre nach der Ermordung
Weitere Zweifel an der offiziellen Darstellung des Anschlags sind vor Kurzem aufgekommen, als im Oktober ein Buch des früheren Secret-Service-Agenten Paul Landis, 88, erschien. Er war für den Schutz der First Lady zuständig und hatte den Mord am 22. November 1963 aus nächster Nähe mitbekommen. Er will eine Kugel neben dem Sitz von JFK gefunden haben, von der er glaubt, dass sie beim Abtransport Kennedys aus seinem Körper gefallen sei.
Das bedeutet: Die Warren-Annahme von der "Magical Bullet", die Kennedy und Connally verletzt hat, kann nicht stimmen. Es müsste also ein vierter Schuss gefallen sein. Abgefeuert von einem zweiten Schützen in einem seitlichen Gebüsch? Erneut fällt viel Wasser auf die Mühlen der Verschwörungstheoretiker – mit einem Nebeneffekt: Der charismatische John F. Kennedy, dessen politische Leistungen als Präsident durchaus umstritten sind, ist zum unsterblichen, alles überstrahlenden Mythos der US-Geschichte geworden.
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